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Ende des Internets

Freund L. hat mir neulich Folgendes mitgeteilt: „Mach dir keine Sorgen um den Erhalt des Kulturguts der Gegenwart. Alles kann man digitalisieren. Alles: Bilder, Bücher, Notizen, Verträge, auch Gemälde. Ich verspreche: All diese Dateien sind so sicher, als wären sie in Stein gemeißelt.“

Er wollte mich beruhigen, nachdem ich die Befürchtung geäußert habe, dass künftige Generationen möglicherweise weniger über unser Zeitalter wissen werden als wir über das europäische 8. Jahrhundert.

Digitales Wissen gelte nämlich als gefährdet, weil nur kurzfristig speicherbar. So mein Argument. „Was passiert, zum Beispiel“, sagte ich, „wenn das Internet aus heiterem Himmel zusammenbricht? Dann ist aus mit der ‚Cloud‘. Die ‚Cloud‘ wird dann wie jede Wolke verdünsten. Paff! und alles ist weg.“

„Nein“, besänftigte L. „Das Tolle am Internet ist seine dezentralisierte Struktur. Auch wenn das Netz an vielen unterschiedlichen Orten zeitgleich kollabierte, bliebe der gesamte Inhalt irgendwo erhalten.“

„Und was ist, wenn das ‚Irgendwo‘ ausgerechnet China, Iran, Nordkorea oder Saudi Arabien wäre? Meinst du, die hätten großes Interesse, Kontroverses zu konservieren? Der Sprachbloggeur wäre im Nu Pfutsch. “

„Du machst dir unnötige Sorgen.“

Ja, das hat mir L. gesagt, und ich habe mich von ihm vorerst besänftigen lassen. So sehr, dass ich mir folgende Fantasie ausdachte:

Wir schreiben das Jahr 4012 n.Chr. Archäologen entdecken bei Ausgrabungen einen riesiegen unterirdischen Raum und stoßen auf tausende USB-Sticks – eine Art Digitalbliothek vielleicht. Natürlich haben die Archäologen USB-Sticks nie gesehen, wissen nicht, was die Dinge sind.

Rückblick: Mitte des 19. Jahrhunderts stießen Forscher während Ausgrabungen im Irak auf abertausende beschriebene Tontafeln, die zunächst nur Rätsel aufwarfen, obwohl man vermutete, es handele sich wohl um eine Schrift. Über die nächsten Jahrzehnte war es den Forschern dank einem unfassbaren Fleiß, diese Tafeln beinahe vollkommen zu entziffern. Schon 1915 hatten sie über eine Million Tafeln an verschiedenen Stätten im Irak und Syrien an den Tag gelegt und entkodiert.

Die Geschichte dieser Entzifferung ähnelte gewissermaßen der Lösung eines Sudoko-Rätsels. Trial and error, sozusagen. Und Logik. Henry Creswicke Rawlinson, einer der frühen Codeknacker behauptete Jahrzehnte später: „Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mehr, wie wir das geschafft haben.“

Doch zurück zu meiner Fantasie aus dem Jahr 4012, als der Fund USB-Sticks entdeckt wird. Ich stelle mir vor, dass ein künftiger Rawlinson ebenso hartnäckig wie sein Vorgänger aus dem 19. Jahrhundert den Sinn dieser ulkigen Datenträger entlocken wird, um sich somit die Stimme unserer heutigen Zivilisation zu erschließen.

(Nebenbei: Wir wissen heute dank den Tontafeln mehr über das tägliche Leben der Babylonier und Assyrer als über die der Griechen und Römer. Denn gebrannter Ton vergeht nicht. Unter den zahllosen Keilschrifttexten der Akkader, Babylonier und Assyrer befinden sich zahllose Briefe, Gerichtsurteile, Geschäftsverträge, Schulbücher usw. Solche Texte sind aus Rom und Griechenland kaum erhalten geblieben).

„Tut mir Leid“, unterbrach Freund P., als ich ihm neulich von meiner Zukunftsfantasie erzählte: „Deine USB-Sticks, gesetzt den Fall, sie würden die Zeiten unbeschädigt überstehen, was ohnehin fraglich ist, bräuchten mehr als einen Rawlinson, um sich erschließen zu lassen. Hilfreicher wäre ein Wahrsager. Der alte Rawlinson musste schließlich ca. 200 Zeichen erfassen und kombinieren, um eine zum Teil bereits bekannte Sprache ins Leben zu rufen. Ein künftiger Rawlinson hätte eine ganz andere Aufgabe, gesetzt den Fall, die digitale Information noch lesbar wäre, was auch zweifelhaft ist.“

„Und was wäre diese Aufgabe?“

„Bei der Digitalisierung wird Information entweder als Null oder Einser gespeichert. Dein Rawlinson müsste also aus lauter Nullen und Einsern feststellen, ob er einen Text, ein Bild oder gar Musik vor sich hat. Eine undankbare Arbeit.“

„Aber das Internet. Es wird vielleicht nie kaputt gehen. Dann haben wir uns den ganzen Salat der Entkodierung gespart. Alles Wissen um die Codes würde praktisch ewig wahren.“

„Pustekuchen. Schon jetzt stehen wir wegen des hohen Stromverbrauchs des Netzes einem Energieinfarkt nahe.“

„Was schlägst Du denn vor.“

„Ganz einfach: Alles auf Tontafeln einritzen. Ein mehrfach bewahrtes System.“

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