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Versöhnliche Gedanken nach dem Massenmord

„Mein Gott! ich kann es kaum fassen! Sie kippen sie in den Container einfach so…wie Restmüll!“ Das sagte die eine Frau.

„Als hätten sie keinen Wert mehr“, sagte eine zweite.

„Ich hätt‘s mir nicht mal im Traum vorstellen können, dass ich so was erlebe“, die erste wieder.

Wir wurden immer mehr, und wir staunten alle. Die großen blauen Kisten wurden reihenweise aus dem Haus befördert, alle randvoll. Dann hau ruck! Und der Inhalt wurde in einen noch größeren blauen Container gekippt. Es waren Bücher.

Ja, Bücher. Wir schreiben den 13. Juni 2013. Standort Friedrichstraße in München. Der dtv Verlag hatte sein altes Quartier geräumt, war umgezogen.

Zurück blieben abertausende Bücher: Nachschlagwerke, Belegexemplare, unverkaufte Bände aus dem Lagerbestand usw. Fortlaufend kippten die Männer der Entsorgungsfirma die Bücher in die Containers. Ich griff zum Fotoapparat, um die Szene zu verewigen. Brav schauten die Männer in die Linse: „Kommt das Bild auf Facebook?“ fragte einer.

„Nein, nur halt für mich.“ Habe ich eine Spur der Enttäuschung wahrgenommen?

Eine vollständige Encyclopedia Britannica wurde vor meinen Augen reinkatapultiert, auch ein Brockhaus – aber was soll’s, die hören ohnehin bald auf, gell? Heute hamma Wikipedia und dergleichen. Ein mehrbändiges Literaturlexikon flutschte vor meinen Augen in den Container vorbei. Und endlich kam ich auf die Idee, mir ein paar Bücher vor der Entsorgung zu retten. Das war freilich nur möglich am vollen Container. Zu hoch wären die Wände sonst. Man klaubte, was einem gefiel, als handelte es sich um Treibgut auf der Wasseroberfläche. Was in der Tiefe lag, blieb für alle Ewigkeiten unerforscht.

So kam ich zu einem neuen „Rand-McNally International Atlas“, zu einem „Das treffende Wort“. Einer der Entsorger drückte mir beinahe verlegen eine achtbändige Kassette in die Hand mit Mommsens „Römische Geschichte“. Brav trug ich diese Schätze mit nach Hause. Hinzu einige kleinere Werke: ein paar Bücher über Mozart, Jean Paul, ein Exemplar von Küngs „Christsein“, Kurzgeschichten von Ingeborg Bachmann, ein Buch über Paulus usw. Mehr konnte ich ohnehin nicht transportieren. Die anderen Zuschauer(innen) taten es ähnlich. Eine Frau hatte bald zwei hohe Türme Bücher auf dem Bürgerstein aufgestapelt. Ich drückte der Dame vom Blumengeschäft ein nagelneues Exemplar des „Wahrig-Die deutsche Rechtschreibung“ in die Hand.

„Kommen Sie wieder“, sagte mir jemand. Es geht den ganzen Tag nur weiter so.“

Ende des Bücherzeitalters? Hallo E-Buch! Bye bye Bücher?

Nein. Lediglich das Ende der Inflation.

Fakt eins: Es gibt mittlerweile viel zu viele Bücher im Umgang. Bücher sind keine Kleinode mehr. Sie sind wie Zeitungen: Info-Träger fürs Recycling. Aber wohin mit ihnen? Denn es gilt noch immer als unfein, ein Buch einfach in die Papiertonne zu werfen.

Fakt zwei: Das E-Buch wird das papierne Buch nie ersetzen. Denn das Buch bleibt für alle Zeiten eine geniale Erfindung. Allem Hype der elektronischen Medien zum Trotz, sind diese Blättersammlungen enorm praktisch.

Jetzt ein kurzer Sprung in die römische Antike. Das Lesepublikum in der Republik (zu bemerken: eine sehr kleine Minderheit der Bevölkerung) pflegte ihre Literatur in Schriftrollen zu schmökern. Damals, so schreibt Niklas Holzberg in seinem schönen Buch „Catull“, betrachtete man die Lektüre einer Schriftrolle als eine Reise, ja, eine Schiffsreise, die zu Ende geht, wenn man das Meer der Pergamentrolle überquert hat. Ein E-Buch zu lesen ist ein ähnliches Erlebnis. Zwar werden E-Buchlesergeräte mit raffinierten Suchprogrammen ausgestattet. Das elektronische Suchen bleibt dennoch umständlich. Rumspringen kann man nach wie vor am schnellsten in einem richtigen Buch.

Beispiel: Ich lese momentan im E-Buchformat die Essays von George Orwell. Geniale Stücke bis heute. Will ich aber, bevor ich den nächsten Essay anfange, wissen, wie viele Seiten der Text hat, muss ich mich auf eine komplizierte Prozedur einlassen. Manche Readers verraten gar keine Seitenzahlen – stattdessen erfährt man wie viel Prozent des ganzen Werkes ein Kapitel hat. Wer aus einem richtigen Buch liest, hat hier eindeutig den Vorteil.

Noch ein Beispiel: Wenn ich in meiner schönen Ausgabe des mittelenglischen Gedichts „Piers Plowman“ lese, will ich mal schnell in den Notizen oder im Glossar nachschlagen. Dies wäre beim E-Buch sehr mühsam. Hier auch siegt das Papier.

Das E-Buch ist aber das perfekte Format, wenn man sich auf eine lange Reise, eine literarische Schiffsreise, begeben will, mit der Kenntnis: Ein Zurück gibt es nicht.

Fazit: Fürs lineare Lesen: das E-Buch. Sonst bleibt das Buch – „codex“ auf Lateinisch – weiterhin tongebend.

Den vielen Büchern in den Containers trauere ich aber nicht nach, zumindest den meisten. Viele wären ohnehin fürs E-Buchformat geeigneter gewesen. Und die zu entsorgen? Es hätte ein Knopfdruck genügt. Klick! Zack!

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