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Kurzer Abriss über die Intimrasur usw.

Es gibt Wichtigeres zu thematisieren als Haare.

Ohnehin bin ich völlig verunsichert, ob ich in der heutigen Zeit „Haare“ oder „Haar“ zu sagen habe.

Als ich in den 1970er Deutsch täglich zu sprechen begann, hielt ich es für merkwürdig, dass alle sagten: „Mei, hat sie schöne Haare“ oder „Ach, ich muss mir die Haare schneiden lassen“ usw.

Das lag daran, dass das englische Substantiv „hair“ sowohl zählbar wie auch unzählbar sein kann. Wenn zählbar, dann unerbittlich so: „Damn! I found eight hairs on the carpet! That dog has to go.“

In allen anderen Fällen betrachten wir „hair“ als Kollektivum. „He has long hair“, „Her hair is blonde“ und dergleichen.

Einst bemerkte eine hübsche junge Frau: „Wow, hast du ja schöne lockige Haare.” Ich war völlig perplex. Einerseits lässt man sich gern ein Kompliment geben. Andererseits neigte ich dazu, weil ich einen starken Hang zur Ironie habe, zu antworten: „Danke, aber hast du die alle gezählt?“ So schnöselig war ich aber nicht.

Zugegeben: Es gibt momentan wichtigere Themen als Haare oder Haar. Zum Beispiel, dass die Welt – zumindest auf politischer und wirtschaftlicher Ebene – zusehends aus den Fugen gerät und FC Bayern einen neuen Trainer hat. Über diese Sachen kann man sich aber in jedem beliebigen Blatt informieren; über Haare (oder Haar?) wettert nur der Sprachbloggeur. Aber nun endlich zur Sache:

Ich stelle nämlich fest, dass es – was die Haare betrifft – genauer gesagt die Körperbehaarung – einen Paradigmenwechsel gegeben hat. Er tauchte wie aus dem Nichts auf. Doch ich verstehe immer noch nicht, weshalb es so ist.

Etwas Hintergrund: Ein betagter Gentleman aus meinem Bekanntenkreis, inzwischen verstorben, wollte mir vor fünf Jahren was Gutes tun: Eines Tages drückte er mir einen ramponierten alten Aktenkoffer in die Hand: „Hier, für dich“, sagte er. Ich machte auf und siehe! Lauter Münzen – zwar keine wertvolle – aber alte Münzen, die er im Lauf seines langen Lebens gesammelt hatte. Außerdem fand ich im Koffer ein paar pornografische Videos aus den 1970er Jahren. „Vielleicht gefällt dir das auch“, sagte er und kicherte bös.

Ich bin, um ehrlich zu sein, kein Prüder. Dennoch finde ich pornografische Filme normalerweise sehr langweilig, zumal sie darauf zielen, das hehre Geheimnis der körperlichen Liebe für alle sichtbar zu machen. Das geht natürlich nicht – erst recht nicht, wenn ein Darsteller, der sich wie ein Zombie bewegt, ständig „Hey, Baby, du hast tolle Titten“ sagt und eine Frau unentwegt mit der Zunge über die Lippen fährt und antwortet: „O ja, o ja.“

Ja, ich gebe zu. Ich habe mir die Filme angeschaut – zumindest Teile davon. Denn häufig drückte ich auf „fast forward“, um noch schneller zum lahmen Schluss zu kommen.

Ich teile diesen Sachverhalt aus der Privatsphäre mit Ihnen aus einem bestimmten Grund mit. Und zwar: wegen meiner Beobachtungen im Punkto Körperbehaarung. In besagten alten Videos ist nämlich viel davon, d.h. von der Körperbehaarung, zu sehen: Männer wie sexualisierte Teddybären ringen mit Frauen, die da unten wie der Urwald aussehen.

Aber jetzt zum Kern:

Wenn man die Pornodarstellungen der 1970er Jahre mit ihrem Gegenpart der 2010er Jahre vergleicht, fällt auf, dass es heute in diesem Beruf keine Teddybären und Urwälder mehr gibt. Im Gegenteil. Wir leben im Zeitalter der Intimrasur. Und nicht nur in der Pornografie. Auch im wirklichen Leben: Die Depilation ist – für beide Geschlechter – zu einer Großindustrie vergleichbar mit Smartphones geworden. Als ob in den letzten Jahren eine neue haarlose Menschenzüchtung angestrebt wird. Ich habe keine Erklärung für dieses Phänomen.

Und wann haben Sie das letzte Mal einen Fußballspieler mit Brusthaaren gesehen? Vielleicht noch nie, wenn Sie jung genug sind. Rückblick: In den 70er Jahre stürmten beinahe ausschließlich die Teddybären übers Spielfeld.

Es ist ein Leben wie in der Zeit der Renaissance. Schauen Sie sich mal die alten Bilder an. Sie werden zwar Männer mit Kopfhaaren und Bärten im Überfluss finden. Brusthaare? Beinhaare? Achselhaare? Schamhaare? Ob Jesus, Abraham, Mose oder der Heilige Sebastian. Mangelware. Alles intim rasiert.

Nur ein paar vereinzelte Beobachtungen. Ich schreibe hier keine Doktorarbeit und überlasse diese Aufgabe lieber einem (oder einer), der/die mehr Zeit für Haare hat. Oder meine ich „Haar“?

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