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Schumis Unfall – Breaking News im globalen Dorf

„Weißt du, warum Deutsche so gern übers Wetter reden?“ fragte mich mein Sohn, ein Pragmatist.

„Ich denke, man redet übers Wetter, um einem anderen Menschen wenigstens etwas sagen zu können. Manche ertragen die Stille nicht“, antwortete ich.

„Oder vielleicht sind Deutsche wirklich vom Wetter besessen“, sagte mein Sohn, „Das Thema ist für uns vielleicht so brennend interessant, weil das Wetter in unserem Breitengrad so wechselhaft ist.“

Ja, er hat recht. Das Wetter ist hier ziemlich wechselhaft…

Es muss aber nicht immer nur das Wetter sein, was die Menschen zusammenschweißt. Man kann auch unterhaltsame Gespräche über das „Selfie“ führen („Was? Machst auch du Selfies?…usw.“) oder über Schumi. („Schrecklich, was dem Michael Schumacher passiert ist. Es hat mich wirklich betroffen…usw.“). Oder die Geschichte von Frau Merkels Beckenbruch beim Langlaufskifahren. („O Gott. Jetzt geht die Welt endgültig zugrunde. Es hat auch der Merkel erwischt…usw.“)

Alles Gesprächsfetzen aus dem großen Dorf. „Global Village“ auf Englisch.

Können Sie sich noch erinnern? Es war Marshall McLuhan, der den Begriff „Global Village“ als erster formulierte. Er starb 1980, ohne jemals eine einzige Email geschickt zu haben, ohne den WehWehWeh gesurft zu haben. Er kam auf die Idee des globalen Dorfes lediglich durch das Fernsehen.

Nebenbei: Die Breaking-News über Schumis Unfall erfuhren wir, d.h., meine Frau und ich, in der „Heute Sendung“. Es war das erste Thema an dem Tag. Zuerst teilte der Nachrichtensprecher die Begebenheiten nüchtern mit – im Hintergrund sah man ein Schumi-Foto. Dann folgten die Videoaufnahmen vom Unfallort und wieder die Umstände. Schließlich wurde ein Reporter live vor dem Krankenhaus in Grenoble ausführlich vom Nachrichtensprecher befragt. Der Reporter wiederholte alle bereits bekanntgemachten Fakten. All dies dauerte ca. fünf Minuten. Also ein Drittel der gesamten „Heute Sendung“ handelte von Schumis Unfall. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Es ist nicht, als ob der Schumacher diese Aufmerksamkeit nicht verdient hätte. Immerhin hatte er beim Formel 1 sehr oft gesiegt. Und ohnehin, wer möchte täglich Berichte übers Sterben in Syrien sehen, oder übers Völkermord im Kongo, im S. Sudan oder im längst vergessenen Darfur. Manchmal fühlt man sich so hilflos, wenn man die Bilder sieht. Oder Berichte über Hungersnot. Und das mit Israel und Palästina geht einem mitunter wirklich auf den Keks.

„Warum muss man das gleiche fünfmal wiederholen?“ fragte mich meine Frau, während der Reporter vor dem Krankenhaus in Grenoble mit ernster Stimme über Schumis Verletzungen berichtete.

„Es waren nur dreimal“, korrigierte ich.

Übrigens: In den Xinhau-Nachrichten aus China kann man lauter lustige „Selfies“ beäugen. Ja, so was ist halt der Kitt, mit dem eine Nation zusammengehalten wird: mit „Selfies“ oder mit dem Drama um den Eisbrecher, Xuelong („Schneedrache“), der in der Antarktis, nach der Rettung des russischen Forschungsschiffes Akademik Schokalski selbst eines Eisbrechers bedarf.

Sorry. Ich möchte, wenn ich mir übers globale Dorf Gedanken mache, die Ernsthaftigkeit von Schumis Unfall – auch nicht vom Merkel‘schen Beckenriss – nicht schmälern. Ich wünsche beiden gute Besserung – ebenfalls eine baldige Befreiung vom ewigen Eis fürs Xuelong.

Klar. In jedem Dorf, auch im globalen Dorf, reagiert man besorgt über das Wohlergehen der Nachbarn und dergleichen.

Und manchmal denkt sich jemand einen cleveren Namen aus für etwas, das es schon lange gibt: zum Beispiel, das „Selfie“. Auf einmal reden alle im Dorf vom „Selfie“.

Vielleicht deshalb redet man auch gern übers Wetter.

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