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Vom Mann, der das Paradies bestahl (oder „Love Runs Out“)

Das Unfassbare ist geschehen. Das Paradies wurde letzte Woche bestohlen. Zudem: Ich war dabei, als es passierte.

Elender Dieb. Wie fühlt man sich, wenn man ausgerechnet das Paradies bestiehlt?

Natürlich ist hier die Rede von meinem Lieblingsobst- und Gemüsegeschäft, das öfter auf dieser Seite thematisiert wird.

Nomen est omen aber. Er hat de facto das Paradies beklaut.

Nebenbei: Hier handelt es sich keinesfalls um einen grammatikalischen Dieb. Ich meine: Dieser Dieb, der das Paradies bestahl, war keine Diebin, sondern ein Mann, einer aus Fleisch und Blut. Das weiß ich so genau, weil ich, wie schon oben erwähnt, präsent war, als das Unfassbare geschah. Ich hab ihn mit eigenen Augen gesehen.

Rückblick: Ich war mit Frau M., Inhaberin des Paradieses, im Gespräch vertieft. Das Thema war der Titel des Liedes „Love Runs Out“ von der Band „OneRepublic“.

Frau M. fragte mich, was: „love runs out“ wörtlich bedeutet. Ich war gerade dabei, ihr die Doppeldeutigkeit dieses Satzes zu erklären, als plötzlich: the thief runs in. Nein, das stimmt nicht. Er rannte nicht in den Laden hinein. Das schreib ich nur so, weil es lustig klingt. Trotzdem betrat er den Laden recht zügig. Ich sah ihn aber aus dem Augenwinkel reinkommen. Er war vielleicht 1,80 groß und schlank, durfte über 40 gewesen sein, und hatte nach hinten gekämmte schwarzgraue Haare. Das Gesicht war lang und etwas hager, er trug einen schwarzen Regenmantel und ging an uns lautlos vorbei, um sich dann hinten im Laden, wo die Tomaten, die gelbe Rüben, die Zwiebeln, die mehligen Kartoffeln und das Büro sind, wie in Luft aufzulösen.

In diesem Augenblick verschwand er von meinem Radarschirm ganz, und ich beachtete ihn nicht weiter. Nebenbei: Ich denke, dass „von meinem Radarschirm verschwinden“ keine deutsche Redewendung ist, sondern eine Lehnübersetzung aus dem Englischen. Wir sagen „to disappear from a person‘s radar screen“. Wer dieses Idiom übernehmen will, hat meinen Segen.

Aber zurück zu „love runs out“. Ich erklärte Frau M., dass diese Worte auf Englisch zweierlei bedeuten: 1.) dass die Liebe abgelaufen sei, wie das Wasser aus der Badewanne. Zunächst sagte ich zu Frau M. „ausgelaufen“. Das ist aber falsch, und sie korrigierte mich umgehend; und 2.) dass die Liebe abgehauen sei. Eigentlich kann die „Liebe“ nicht wegrennen. Ein/e Liebhaber/in mag abhauen, die Liebe aber nicht. Denn die Liebe ist eine Abstraktion. Da es aber sich hier um ein Wortspiel handele, sagte ich zu Frau M., brauche man nicht so pingelig zu sein.

Während unseres Gesprächs drehte Frau M. unversehens den Kopf und nahm den Dieb genau ins Visier. Er stand nämlich in dem Augenblick neben den Artischocken und dem Rotkohl – als wäre er aus dem Nichts in Erscheinung getreten. Auch ich warf einen Blick auf ihn. Er wirkte auf mich unscheinbar, ja, harmlos.

Inzwischen stand eine Kundin an der Theke neben Frau M. und mir. Auch sie musterte den Mann. Während ich meine Schwammerln, meine Zucchini und meine Pfirsiche einzutüte, trat nun der Dieb an die Theke heran und händigte Frau M. ein paar Münzen für eine Flasche Wasser (halbes Liter). Dann verließ er den Laden, so lautlos, wie er ihn betreten hatte.

Ja, love ran out the door. Und in den Taschen seines Regenmantels nahm er die Tageseinnahmen und Frau M.s Portemonnaie mit.

Erst später stellte sie fest, dass das Paradies bestohlen wurde.

Wäre es ihm bewusst gewesen, wie der Laden heißt, fragte ich mich, hätte er das Paradies trotzdem gestohlen?

„Wer das Paradies bestiehlt, erntet Unglück“, sagte ich zu Frau M. Ich wollte sie damit trösten.

Es war aber ein schwacher Trost.

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