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Sind Sie noch immer Charlie?

Erinnern Sie sich, als letzte Woche jeder noch „Charlie“ war? War ein Gaudi, gell? Ein gemütliches Gefühl der Solidarität, etwas, das Englisch Sprechende mit den Worten „warm and fuzzy“ bezeichnen, d.h., „warm und weich“, das Gefühl, das man, eingewickelt in einer warmen, Kaschmirdecke an einem kalten Abend, oder im Verlauf einer intimen Zweisamkeit, empfindet.

Ja, warm and fuzzy.

Wären damals nur die Juden im koscheren Supermarkt dran gewesen, hätte wohl kaum einer, „je suis Juif“ bekundet. Manche hätten vielleicht gedacht: „Ja mei, aber machen die nicht das gleiche in Gaza?“ usw. Oder wenn es nur Polizisten gewesen wären, hätten sich die Proteste wohl auch in Grenzen gehalten mit der Begründung: Tja, Pech gehabt, Arbeitsrisiko halt.

Es waren aber Blattmacher der Redaktion des satirischen Zeitschrift „Charlie Hébdo“, die massakriert wurden, genauer gesagt, es war ein Angriff gegen die freie Presse, gegen die Grundwerte der europäischen Gesellschaft also. Starker Tobak – erst recht in der Grande Nation. Auch für die islamische Welt, die momentan mit einem ernsthaften Image-Problem zu kämpfen hat, gab der Überfall Grund zur Sorge. Da meldeten sich in vielen islamischen Ländern verschiedene Stimmen aus der Politik – und aus dem Volk – , um sich vom feigen Mordüberfall zu distanzieren und ihn als „nicht im Einklang mit dem Islam“ usw. zu bezeichnen. Auch die um Gunst werbende Hamas drückte ihr Beileid aus. Dito die Hisbollah. Nur für den Mord an die Juden im koscheren Supermarkt zeigten sie Verständnis. Der Attentäter wurde sogar zum Märtyrer erklärt.

Egal. Alles ohnehin nur vorübergehende Regungen, die bald in Vergessenheit geraten. Denn schließlich geht das Leben – zumindest für die Lebenden – weiter. Gell?

Aber wie der Zufall es haben wollte, geschah beinahe zeitgleich mit – allerdings ohne Bezug zu – dem Massaker in Paris ein anderes furchtbares Ereignis: der grausame Überfall auf das Dorf Baga im nördlichen Nigeria. Noch nie von Baga gehört – oder vielleicht nur am äußersten Rande des Bewusstseins? Zur Erinnerung: Anhänger der fanatischen Boko-Haram-Bewegung in Nigeria hatten, während Gesinnungsgenossen in Paris rumballerten, diese Kleinstadt Baga dem Erdboden gleich gemacht. Augenzeugen berichteten von ca. 2000 Toten. Manchen Quellen zufolge waren es vielleicht nur einige Hunderte. Wer will aber über Zahlen streiten, es sei denn, man macht gerade ein Geschäft?

Haben irgendwo entsetzte Massen ausgerufen: Je suis Baga? Sicherlich haben hie und da manche mit dem Kopf fassungslos geschüttelt. Aber nur kurz. Und wie lange hat das Entsetzen wegen des Mordes in Pakistan an 143 Schüler gehalten, die vom Taliban verübt wurde?

Seien wir ehrlich: Menschenleben sind im Grunde billig – nicht nur für ihre Mörder, sondern auch für uns. Mit einer Ausnahme: Sie gewinnen stets an Wert, wenn sie als Symbol für etwas instrumentalisieren lassen.

Man könnte fast meinen, dass jedes Verbrechen wie ein Wort ist. Das heißt: Man versteht am besten diejenigen der eigenen Sprache. Denn nicht jeder hat ein Talent für Fremdsprachen.

Tote in Baga? Was soll’s. Es waren ohnehin Afrikaner (bzw. „Neger“). Tote in Pakistan? Ja, der Taliban. Die bringen sich ständig gegenseitig um usw.
Habe ich gesagt, dass Verbrechen wie Wörter sind? Ich sollte mich präziser ausdrücken: Sie sind Modewörter. Das heißt: Sie haben meistens ein Verfallsdatum. Wer letzte Woche Charlie war, ist es diese Woche vielleicht nur noch ein bisschen. Ist ja normal, dass die Dinge altern.

Es wird aber lustiger: Kaum eine Woche nach der Mordserie protestieren bereits in islamischen Ländern Hunderttausende gegen die Veröffentlichung der neuen, posthumen Ausgabe von „Charlie Hébdo“, die für Europäer gleichsam als „Souvenirheft“ millionenfach gedruckt und begehrt wird.

Während Europäer Schlange stehen, um ein kostbares Exemplar zu ergattern, regen sich Muslime wegen des Coverbildes auf. Dieses zeigt nämlich einen Menschen mit Turban, der weint und deklariert „Je suis Charlie“. Die Protestierenden halten diese Figur indes für eine „Mohammed-Karikatur“. Ich bin übrigens anderer Meinung. Ich glaube, dass diese Figur lediglich ein Symbol für die islamische Welt darstellen soll. Als zusätzliches Zeichen der Versöhnung steht auf dem Cover der Spruch: „Tout est pardonné“, also „alles ist verzeihen“.

In Niger starben bisher ein Dutzend Menschen wegen der heftigen Randalen. Sieben Kirchen wurden in Brand gesteckt. In Tschetschenien wurde die neue Ausgabe des „Charlie Hébdo“ von der dortigen Regierung als nützliches Mittel instrumentalisiert, um das ganze Land gleichzuschalten. Auch in Peschawar, wo der Taliban neulich 143 Schüler ermordeten, schwärmen tausende Protestierende auf die Straßen…

Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Ich bin total ratlos und war ohnehin nie Charlie.

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