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Prolog auf dem Olymp

Da ist er, o Weltherrscher und Himmelsgott! Da ist er! Erschlage ihn! Erschlage ihn mit deinem Blitzkeil! Verwandele ihn in schwarzen Staub, den der Wind über die lechzenden Wellen des Meers zerstäuben wird. Jetzt hast du deine Chance!

Von wem redest du, teurer Seelenführer?

Von Diagoras! Siehst du ihn nicht? Da, unten und ausgerechnet in deinem heiligen Gelände. Er sitzt da auf der Bank und schaut mit fernem Blick auf den wankelmütigen Kladeos.

Diagoras? Den Sterblichen, der behauptet, es gäbe uns nicht?

Denselben, o Herr des Universums. Zermalme ihn, zerdrücke ihn. Schick ihn in die Welt der Schatten und möge seine schwarze Seele in alle Ewigkeit um Vergebung flehen. Aber es wird keine Vergebung geben. Er wird, wie ein Durstiger sein, dem man Essig statt Wasser verabreicht, um sein Leiden nur noch zu verstärken. Möge er ewig unsere Schatten sehen – ein Verbannter aus der lichten Welt.

Ach ja. Du hast recht. Hol mir gleich meinen Blitzkeil.

Er liegt neben dir auf dem Tisch. Ist was, o Herr?

Das ist ja komisch. Schau dir meine Hand an. Sehe ich falsch oder wird sie löcherig? Sie wirkt wie zerfressen, als würden Teile von mir fehlen. Meine Güte! Auch meine Arme sind befallen… und schau, meine Füße, ja auch die Beine. Es ist, als ob Nadellöcher an meinem ganzen Wesen entstünden.

Bei Herakles! Mir nicht weniger, Vater der Götter. Siehst du nicht, wie das himmlische Licht durch winzigste Löcher strahlt. Mein Helm und die geflügelten Sandalen an den göttlichen Fersen verlieren ihre Konturen. Ob alle Götter krank geworden sind, o Herr? Sucht uns eine Krankheit heim? Nein, ich verstehe. Er trägt die Schuld! Jener Diagoras und solche wie er. Denn sie glauben nicht mehr an uns.

Nicht an uns glauben? Was ist daran nicht zu glauben? Habe ich nicht die Titanen mit meinem mächtigen Donnerkeil bezwungen, den feuerspeienden Typhon ins Erdinnere verbannt? Habe ich nicht die glorreichen Helden von Hellas zum Sieg über die tapferen Trojaner verholfen?. Ohne Zahl ist die Frucht meiner Lenden. Meine ewige Güte wird immerwährend gepriesen und mit dem süßen Geruch der Hekatomben gefeiert. Wie kann man an mich nicht glauben?

Frag Diagoras, o Herr, und seine Sorte, die uns vergessen. Manche munkeln schon, dass nicht die Götter, sondern die Menschen unsterblich seien.

Wie ist das zu verstehen? Unsterbliche Menschen? Das ist ja ein Widerspruch. Habe ich sie nicht aus Steinen erschaffen und ihnen das Feuer geschenkt? Habe ich nicht mit ihren holden Töchtern Helden gezeugt? Menschen werden wie das Gras geboren, nur in der jugendlichen Blüte ähneln sie uns, bald aber verblassen die satten Farben, sie erstarren, dann welken sie, bis sie langsam sterben. Haben wir das nicht unzählige Male beobachtet, lieber Seelenführer? Haben wir nicht dem Tod von tapferen Kriegern gemeinsam beigewohnt und kaum mitgefühlt? Das ist ihr Schicksal. Sie starben, immer starben sie, und wir leben weiter. Wer sind die Sterblichen?

Man erzählt, so habe ich gehört, uns fehle der Daimon.

Der Daimon? Aber natürlich fehlt uns der Daimon. Den haben wir den Menschen eingehaucht, damit sie zu denken vermögen.

Genauso ist es, damit sie zu denken vermögen. Man behauptet aber, so wird erzählt, dass sie uns mit ihrem Daimon erdacht haben.

Uns erdacht? Mit dem Daimon? Unsinn! Aber wenn sie so meinen, mein lieber Sohn, dann nehmen wir ihnen den verdammten Daimon einfach weg! Schluss! Ende des Problems.

Aber was ist, Vater, wenn es stimmt. Was passiert, wenn sie ganz aufhören an uns zu denken? Gibt es uns denn gar nicht mehr? Sie haben uns erdacht, munkelt man, weil sie Wünsche haben, und sie meinen, dass wir diese Wünsche erfüllen können.

Das tun wir auch. Warum sollten sie dann nicht mehr an uns glauben wollen?

Leute wie Diagoras erzählen, dass die Menschen uns aus Angst erfunden haben.

Und woran glauben solche wie Diagoras?

Ich weiß es nicht. Ich fürchte, man müsste ihn fragen.

Lieber Hermes, es macht mir Angst, wenn ich sehe, wie ich löcherig werde. Auch mein stolzer Blitzkeil sieht zerfressen aus. Wir brauchen Hilfe. An wen können wir uns aber wenden?

Lo mi narto vilar karn

Korni manu sori nu

Vistu paschar ari sarn

Uista kalli pantu ru.

Wer war denn das? Stimmen wie klagender Flöten düstere Elegien? Waren das nicht die Musen? Warum verstehe ich sie aber nicht? Sie singen in einer Sprache, die mir fremd ist. Und siehe, Hermes, sie huschen an uns vorbei, ohne zu grüßen und sehen nicht löcherig aus wie wir. Bin ich nicht ihr Vater? Habe ich sie nicht mit ihrer Mutter Mnemosyne in einer heißen Liebesnacht auf dem Helikon gezeugt? Wieso erkennen sie mich nicht? Wieso verstehe ich sie nicht?

O Vater, man erzählt, dass sie mit uns nicht verwandt seien. Es seien nicht deine Kinder. Und sie heißen nicht Musen. Man nennt sie die Gesandten. Sie sprechen nur die Daimonen der Sterblichen an, ob man sie rufe oder nicht. So sagt man.

Ich verstehe die Welt nicht mehr, lieber Hermes. Werde ich alt? Kann ich alt werden? Doch warte. Sehe ich nicht den Pindar? Meinen Pindar! Ja, es ist der liebliche Pindar mit der Honigkehle, der mich stets besingt, mich aufrichtet, mich preist, mich ehrt. Wenn mich einer heilen kann, so ist es er. Ja, Pindar, lieber Pindar, dessen Sprache meine Sprache ist. Pindar! Pindar! Du wirst uns helfen! Du wirst helfen!

Ich sehe ihn nicht, o Herr, Diagoras sehe ich, und ich sehe nur, dass sein Daimon denkt. Sein Daimon denkt an Pindar. Nein, nicht Pindar siehst du, sondern die Gedanken des Diagoras, der an Pindar denkt.

Wie kann ich das gedachte Bild des Denkers sehen, wenn du meinst, dass auch ich ein Gedanke bin? Willst du mich völlig konfus machen?

Pst! Hören wir lieber seinen Gedanken zu. Vielleicht erfahren wir etwas, das uns von der Krankheit erlösen wird.

Aus: "Hierons Gastmahl oder Das Wort als Ware"

 

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